Leibniz und die braunschweig-lüneburgische Hausgeschichte: Leibniz’ Suche nach den Vorfahren Azzos II. von Este zwischen 1685 - 1716 und sein Prioritätsstreit mit Lodovico Antonio Muratori

Publikation: Qualifikations-/StudienabschlussarbeitDissertation

Autoren

  • Sven Erdner

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Details

OriginalspracheDeutsch
QualifikationDoctor philosophiae
Gradverleihende Hochschule
Betreut von
  • Michaela Hohkamp, Betreuer*in
Datum der Verleihung des Grades23 Okt. 2019
ErscheinungsortHannover
PublikationsstatusVeröffentlicht - 2023

Abstract

Leibniz’ genealogische Forschungen zu den Welfenvorfahren sind innerhalb des lange vernachlässigten Themas „Leibniz als Historiker“ bisher kaum näher untersucht worden, obwohl diese zum Kern von Leibniz’ geplanter Welfengeschichte gehörten, welche ihrerseits einen bedeutenden Teil seiner rund vierzigjährigen Tätigkeit für den hannoverschen Hof einnahm. Ausgangspunkt dieser Forschungen war im Jahr 1685 der Auftrag Herzog Ernst Augusts an Leibniz, die Ursprünge der Dynastie, genauer die gemeinsamen Agnaten des Hauses Braunschweig-Lüneburg (d.h. der heutigen Welfen) und der italienischen Este, über den zu Leibniz’ Zeit bekannten Stammvater Azzo II. von Este (gest. 1097) hinaus mit den sich ab dem 17. Jahrhundert herausbildenden Wissenschaftsmethoden zu ermitteln und durch Quellen kritisch zu begründen. Um die selbst nach über zwanzig Jahren noch nicht abgeschlossene Arbeit zu beschleunigen, kommt es v.a. ab 1711 bis 1716 zur intensiven brieflichen Kooperation Leibniz’ mit Lodovico Antonio Muratori, dem Historiographen der Herzöge von Modena aus dem Hause Este, die sich zu einem Konkurrenzkampf in der Identifizierung dieser Agnaten und schließlich 1715/1716 zu einem Streit um die Priorität wandelt. Muratori verdächtigt zudem Leibniz, um dessen Welfengeschichte endlich zu vollenden, des Plagiats, liegt letzterem doch ab August 1715 Muratoris vollständig ausgearbeitete Untersuchung zu den italienischen Vorfahren Azzos II., den heute so genannten Obertenghi/Otbertinern, vor. Diese kann der italienische Historiker schließlich 1717 unter dem Titel Antichità estensi als bis heute grundlegendes Werk zur Este-Forschung herausgeben, während Leibniz’ Arbeit – seine Annales imperii – bei seinem Tod 1716 unvollendet bleibt und erst Mitte des 19. Jahrhunderts veröffentlicht wird. Die Dissertation verfolgt den Zusammenhang von Leibniz’ eigener Erforschung dieser otbertinischen Agnaten des Hauses Braunschweig-Lüneburg und der Este mit dem späteren Prioritätsstreit mit Muratori. Einleitend wird Leibniz’ Rolle als Historiker mit der in seiner Zeit beginnenden Verwissenschaftlichung und der Entwicklung einer kritischen Methodik betrachtet, die mit einem Überblick zur Genese der modernen Geschichtsforschung aus der Methodenentwicklung der Barockhistorie dargelegt wird. Dazu wird parallel die Problematik von Leibniz’ Forschungsgegenstand, die Adelsgeschichte, in ihrem jeweiligen zeitabhängigen Selbstverständnis (frühmittelalterliche Einnamigkeit vs. Barocke Dynastisierung in der Leibniz’schen historiographischen Rekonstruktion) sowie die Forschung darüber mit ihrer Methodik erläutert. In 6 Kapiteln wird nachfolgend Leibniz’ Forschungschronologie nachgezeichnet, von der Einarbeitung in die Thematik 1685-1690 bis hin zur Phase der Zusammenarbeit mit Muratori 1711-1716. Als wichtigstes Ergebnis kann festgehalten werden, dass Leibniz bereits ab 1693 die welfisch-estischen Agnaten mittels seines wissenschaftlichen Instrumentariums, u.a. der bis heute praktizierten besitzgeschichtlich-genealogischen Methode, auf die Otbertiner zurückführt, wie dies später ebenso durch Muratori geschieht. Dabei führt Leibniz verschiedene Informationsströme zusammen: Lektüre zeitgenössischer Historiker, Hinweise aus seinen zahlreichen Briefwechseln und Ergebnisse seiner Archivreise von 1690 nach Modena, die in seine handschriftlichen Stammtafeln einfließen, deren Ergebnisse er aber nicht öffentlich macht und die die bisher unbekannte Grundlage für seine spätere Zusammenarbeit mit Muratori bilden. V.a. anhand der (Neu)Edition dieser bisher zum größten Teil unerforschten Handschriften lässt sich die bestehende Forschungsmeinung über Leibniz’ Abhängigkeit von seinen Korrespondenzpartnern bei der Ermittlung der Otbertiner korrigieren, da sie Leibniz’ selbstständige Forschungsdurchbrüche der 1690er Jahre kenntlich machen. Die Analyse der Handschriften erlaubt zudem die Identifizierung zweier sich nacheinander ablösender Abstammungstheorien, von denen Leibniz die erste von 1693 bis ca. 1697 und die zweite von ca. 1698 bis 1711 vertrat. Mit letzterer beginnt Leibniz die Zusammenarbeit mit Muratori, erkennt aber infolge der weitgehenden Übereinstimmung der ersteren mit einer ausführlichen Genealogie der Welfen-Este-Vorfahren in einem Brief Muratoris von Februar 1711, der so genannten Dissertazione prima, die die Grundlage für die späteren Antichità estensi bildet, dass die eigenen älteren Überlegungen zur Otbertiner-Abstammung von 1693 wohl zutreffend waren. Leibniz’ darauffolgender Rückgriff auf diese ältere Theorie, besonders in einem den Este gewidmeten Kapitel seiner Annales, welches ab Oktober 1715 Muratori vorliegt, erscheint deshalb von außen betrachtet wie eine Übernahme von Muratoris Forschungen, was in den Plagiatsvorwurf von 1715/1716 gipfelt. Leibniz’ so rekonstruierbare Genealogie der Welfen-Este-Vorfahren der Annales wird abschließend mit den Antichità estensi von Muratori verglichen. Dabei treten neben den jeweils eigenständigen Forschungsleistungen auch wechselseitige Abhängigkeiten in den Details der beiden Gelehrten zu Tage, ohne dass sie diese immer genau kenntlich machten.

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Diese kann der italienische Historiker schlie{\ss}lich 1717 unter dem Titel Antichit{\`a} estensi als bis heute grundlegendes Werk zur Este-Forschung herausgeben, w{\"a}hrend Leibniz{\textquoteright} Arbeit – seine Annales imperii – bei seinem Tod 1716 unvollendet bleibt und erst Mitte des 19. Jahrhunderts ver{\"o}ffentlicht wird. Die Dissertation verfolgt den Zusammenhang von Leibniz{\textquoteright} eigener Erforschung dieser otbertinischen Agnaten des Hauses Braunschweig-L{\"u}neburg und der Este mit dem sp{\"a}teren Priorit{\"a}tsstreit mit Muratori. Einleitend wird Leibniz{\textquoteright} Rolle als Historiker mit der in seiner Zeit beginnenden Verwissenschaftlichung und der Entwicklung einer kritischen Methodik betrachtet, die mit einem {\"U}berblick zur Genese der modernen Geschichtsforschung aus der Methodenentwicklung der Barockhistorie dargelegt wird. 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Dabei f{\"u}hrt Leibniz verschiedene Informationsstr{\"o}me zusammen: Lekt{\"u}re zeitgen{\"o}ssischer Historiker, Hinweise aus seinen zahlreichen Briefwechseln und Ergebnisse seiner Archivreise von 1690 nach Modena, die in seine handschriftlichen Stammtafeln einflie{\ss}en, deren Ergebnisse er aber nicht {\"o}ffentlich macht und die die bisher unbekannte Grundlage f{\"u}r seine sp{\"a}tere Zusammenarbeit mit Muratori bilden. V.a. anhand der (Neu)Edition dieser bisher zum gr{\"o}{\ss}ten Teil unerforschten Handschriften l{\"a}sst sich die bestehende Forschungsmeinung {\"u}ber Leibniz{\textquoteright} Abh{\"a}ngigkeit von seinen Korrespondenzpartnern bei der Ermittlung der Otbertiner korrigieren, da sie Leibniz{\textquoteright} selbstst{\"a}ndige Forschungsdurchbr{\"u}che der 1690er Jahre kenntlich machen. Die Analyse der Handschriften erlaubt zudem die Identifizierung zweier sich nacheinander abl{\"o}sender Abstammungstheorien, von denen Leibniz die erste von 1693 bis ca. 1697 und die zweite von ca. 1698 bis 1711 vertrat. Mit letzterer beginnt Leibniz die Zusammenarbeit mit Muratori, erkennt aber infolge der weitgehenden {\"U}bereinstimmung der ersteren mit einer ausf{\"u}hrlichen Genealogie der Welfen-Este-Vorfahren in einem Brief Muratoris von Februar 1711, der so genannten Dissertazione prima, die die Grundlage f{\"u}r die sp{\"a}teren Antichit{\`a} estensi bildet, dass die eigenen {\"a}lteren {\"U}berlegungen zur Otbertiner-Abstammung von 1693 wohl zutreffend waren. 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author = "Sven Erdner",
year = "2023",
doi = "10.15488/14447",
language = "Deutsch",
school = "Gottfried Wilhelm Leibniz Universit{\"a}t Hannover",

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T1 - Leibniz und die braunschweig-lüneburgische Hausgeschichte

T2 - Leibniz’ Suche nach den Vorfahren Azzos II. von Este zwischen 1685 - 1716 und sein Prioritätsstreit mit Lodovico Antonio Muratori

AU - Erdner, Sven

PY - 2023

Y1 - 2023

N2 - Leibniz’ genealogische Forschungen zu den Welfenvorfahren sind innerhalb des lange vernachlässigten Themas „Leibniz als Historiker“ bisher kaum näher untersucht worden, obwohl diese zum Kern von Leibniz’ geplanter Welfengeschichte gehörten, welche ihrerseits einen bedeutenden Teil seiner rund vierzigjährigen Tätigkeit für den hannoverschen Hof einnahm. Ausgangspunkt dieser Forschungen war im Jahr 1685 der Auftrag Herzog Ernst Augusts an Leibniz, die Ursprünge der Dynastie, genauer die gemeinsamen Agnaten des Hauses Braunschweig-Lüneburg (d.h. der heutigen Welfen) und der italienischen Este, über den zu Leibniz’ Zeit bekannten Stammvater Azzo II. von Este (gest. 1097) hinaus mit den sich ab dem 17. Jahrhundert herausbildenden Wissenschaftsmethoden zu ermitteln und durch Quellen kritisch zu begründen. Um die selbst nach über zwanzig Jahren noch nicht abgeschlossene Arbeit zu beschleunigen, kommt es v.a. ab 1711 bis 1716 zur intensiven brieflichen Kooperation Leibniz’ mit Lodovico Antonio Muratori, dem Historiographen der Herzöge von Modena aus dem Hause Este, die sich zu einem Konkurrenzkampf in der Identifizierung dieser Agnaten und schließlich 1715/1716 zu einem Streit um die Priorität wandelt. Muratori verdächtigt zudem Leibniz, um dessen Welfengeschichte endlich zu vollenden, des Plagiats, liegt letzterem doch ab August 1715 Muratoris vollständig ausgearbeitete Untersuchung zu den italienischen Vorfahren Azzos II., den heute so genannten Obertenghi/Otbertinern, vor. Diese kann der italienische Historiker schließlich 1717 unter dem Titel Antichità estensi als bis heute grundlegendes Werk zur Este-Forschung herausgeben, während Leibniz’ Arbeit – seine Annales imperii – bei seinem Tod 1716 unvollendet bleibt und erst Mitte des 19. Jahrhunderts veröffentlicht wird. Die Dissertation verfolgt den Zusammenhang von Leibniz’ eigener Erforschung dieser otbertinischen Agnaten des Hauses Braunschweig-Lüneburg und der Este mit dem späteren Prioritätsstreit mit Muratori. Einleitend wird Leibniz’ Rolle als Historiker mit der in seiner Zeit beginnenden Verwissenschaftlichung und der Entwicklung einer kritischen Methodik betrachtet, die mit einem Überblick zur Genese der modernen Geschichtsforschung aus der Methodenentwicklung der Barockhistorie dargelegt wird. Dazu wird parallel die Problematik von Leibniz’ Forschungsgegenstand, die Adelsgeschichte, in ihrem jeweiligen zeitabhängigen Selbstverständnis (frühmittelalterliche Einnamigkeit vs. Barocke Dynastisierung in der Leibniz’schen historiographischen Rekonstruktion) sowie die Forschung darüber mit ihrer Methodik erläutert. In 6 Kapiteln wird nachfolgend Leibniz’ Forschungschronologie nachgezeichnet, von der Einarbeitung in die Thematik 1685-1690 bis hin zur Phase der Zusammenarbeit mit Muratori 1711-1716. Als wichtigstes Ergebnis kann festgehalten werden, dass Leibniz bereits ab 1693 die welfisch-estischen Agnaten mittels seines wissenschaftlichen Instrumentariums, u.a. der bis heute praktizierten besitzgeschichtlich-genealogischen Methode, auf die Otbertiner zurückführt, wie dies später ebenso durch Muratori geschieht. Dabei führt Leibniz verschiedene Informationsströme zusammen: Lektüre zeitgenössischer Historiker, Hinweise aus seinen zahlreichen Briefwechseln und Ergebnisse seiner Archivreise von 1690 nach Modena, die in seine handschriftlichen Stammtafeln einfließen, deren Ergebnisse er aber nicht öffentlich macht und die die bisher unbekannte Grundlage für seine spätere Zusammenarbeit mit Muratori bilden. V.a. anhand der (Neu)Edition dieser bisher zum größten Teil unerforschten Handschriften lässt sich die bestehende Forschungsmeinung über Leibniz’ Abhängigkeit von seinen Korrespondenzpartnern bei der Ermittlung der Otbertiner korrigieren, da sie Leibniz’ selbstständige Forschungsdurchbrüche der 1690er Jahre kenntlich machen. Die Analyse der Handschriften erlaubt zudem die Identifizierung zweier sich nacheinander ablösender Abstammungstheorien, von denen Leibniz die erste von 1693 bis ca. 1697 und die zweite von ca. 1698 bis 1711 vertrat. Mit letzterer beginnt Leibniz die Zusammenarbeit mit Muratori, erkennt aber infolge der weitgehenden Übereinstimmung der ersteren mit einer ausführlichen Genealogie der Welfen-Este-Vorfahren in einem Brief Muratoris von Februar 1711, der so genannten Dissertazione prima, die die Grundlage für die späteren Antichità estensi bildet, dass die eigenen älteren Überlegungen zur Otbertiner-Abstammung von 1693 wohl zutreffend waren. Leibniz’ darauffolgender Rückgriff auf diese ältere Theorie, besonders in einem den Este gewidmeten Kapitel seiner Annales, welches ab Oktober 1715 Muratori vorliegt, erscheint deshalb von außen betrachtet wie eine Übernahme von Muratoris Forschungen, was in den Plagiatsvorwurf von 1715/1716 gipfelt. Leibniz’ so rekonstruierbare Genealogie der Welfen-Este-Vorfahren der Annales wird abschließend mit den Antichità estensi von Muratori verglichen. Dabei treten neben den jeweils eigenständigen Forschungsleistungen auch wechselseitige Abhängigkeiten in den Details der beiden Gelehrten zu Tage, ohne dass sie diese immer genau kenntlich machten.

AB - Leibniz’ genealogische Forschungen zu den Welfenvorfahren sind innerhalb des lange vernachlässigten Themas „Leibniz als Historiker“ bisher kaum näher untersucht worden, obwohl diese zum Kern von Leibniz’ geplanter Welfengeschichte gehörten, welche ihrerseits einen bedeutenden Teil seiner rund vierzigjährigen Tätigkeit für den hannoverschen Hof einnahm. Ausgangspunkt dieser Forschungen war im Jahr 1685 der Auftrag Herzog Ernst Augusts an Leibniz, die Ursprünge der Dynastie, genauer die gemeinsamen Agnaten des Hauses Braunschweig-Lüneburg (d.h. der heutigen Welfen) und der italienischen Este, über den zu Leibniz’ Zeit bekannten Stammvater Azzo II. von Este (gest. 1097) hinaus mit den sich ab dem 17. Jahrhundert herausbildenden Wissenschaftsmethoden zu ermitteln und durch Quellen kritisch zu begründen. Um die selbst nach über zwanzig Jahren noch nicht abgeschlossene Arbeit zu beschleunigen, kommt es v.a. ab 1711 bis 1716 zur intensiven brieflichen Kooperation Leibniz’ mit Lodovico Antonio Muratori, dem Historiographen der Herzöge von Modena aus dem Hause Este, die sich zu einem Konkurrenzkampf in der Identifizierung dieser Agnaten und schließlich 1715/1716 zu einem Streit um die Priorität wandelt. Muratori verdächtigt zudem Leibniz, um dessen Welfengeschichte endlich zu vollenden, des Plagiats, liegt letzterem doch ab August 1715 Muratoris vollständig ausgearbeitete Untersuchung zu den italienischen Vorfahren Azzos II., den heute so genannten Obertenghi/Otbertinern, vor. Diese kann der italienische Historiker schließlich 1717 unter dem Titel Antichità estensi als bis heute grundlegendes Werk zur Este-Forschung herausgeben, während Leibniz’ Arbeit – seine Annales imperii – bei seinem Tod 1716 unvollendet bleibt und erst Mitte des 19. Jahrhunderts veröffentlicht wird. Die Dissertation verfolgt den Zusammenhang von Leibniz’ eigener Erforschung dieser otbertinischen Agnaten des Hauses Braunschweig-Lüneburg und der Este mit dem späteren Prioritätsstreit mit Muratori. Einleitend wird Leibniz’ Rolle als Historiker mit der in seiner Zeit beginnenden Verwissenschaftlichung und der Entwicklung einer kritischen Methodik betrachtet, die mit einem Überblick zur Genese der modernen Geschichtsforschung aus der Methodenentwicklung der Barockhistorie dargelegt wird. Dazu wird parallel die Problematik von Leibniz’ Forschungsgegenstand, die Adelsgeschichte, in ihrem jeweiligen zeitabhängigen Selbstverständnis (frühmittelalterliche Einnamigkeit vs. Barocke Dynastisierung in der Leibniz’schen historiographischen Rekonstruktion) sowie die Forschung darüber mit ihrer Methodik erläutert. In 6 Kapiteln wird nachfolgend Leibniz’ Forschungschronologie nachgezeichnet, von der Einarbeitung in die Thematik 1685-1690 bis hin zur Phase der Zusammenarbeit mit Muratori 1711-1716. Als wichtigstes Ergebnis kann festgehalten werden, dass Leibniz bereits ab 1693 die welfisch-estischen Agnaten mittels seines wissenschaftlichen Instrumentariums, u.a. der bis heute praktizierten besitzgeschichtlich-genealogischen Methode, auf die Otbertiner zurückführt, wie dies später ebenso durch Muratori geschieht. Dabei führt Leibniz verschiedene Informationsströme zusammen: Lektüre zeitgenössischer Historiker, Hinweise aus seinen zahlreichen Briefwechseln und Ergebnisse seiner Archivreise von 1690 nach Modena, die in seine handschriftlichen Stammtafeln einfließen, deren Ergebnisse er aber nicht öffentlich macht und die die bisher unbekannte Grundlage für seine spätere Zusammenarbeit mit Muratori bilden. V.a. anhand der (Neu)Edition dieser bisher zum größten Teil unerforschten Handschriften lässt sich die bestehende Forschungsmeinung über Leibniz’ Abhängigkeit von seinen Korrespondenzpartnern bei der Ermittlung der Otbertiner korrigieren, da sie Leibniz’ selbstständige Forschungsdurchbrüche der 1690er Jahre kenntlich machen. Die Analyse der Handschriften erlaubt zudem die Identifizierung zweier sich nacheinander ablösender Abstammungstheorien, von denen Leibniz die erste von 1693 bis ca. 1697 und die zweite von ca. 1698 bis 1711 vertrat. Mit letzterer beginnt Leibniz die Zusammenarbeit mit Muratori, erkennt aber infolge der weitgehenden Übereinstimmung der ersteren mit einer ausführlichen Genealogie der Welfen-Este-Vorfahren in einem Brief Muratoris von Februar 1711, der so genannten Dissertazione prima, die die Grundlage für die späteren Antichità estensi bildet, dass die eigenen älteren Überlegungen zur Otbertiner-Abstammung von 1693 wohl zutreffend waren. Leibniz’ darauffolgender Rückgriff auf diese ältere Theorie, besonders in einem den Este gewidmeten Kapitel seiner Annales, welches ab Oktober 1715 Muratori vorliegt, erscheint deshalb von außen betrachtet wie eine Übernahme von Muratoris Forschungen, was in den Plagiatsvorwurf von 1715/1716 gipfelt. Leibniz’ so rekonstruierbare Genealogie der Welfen-Este-Vorfahren der Annales wird abschließend mit den Antichità estensi von Muratori verglichen. Dabei treten neben den jeweils eigenständigen Forschungsleistungen auch wechselseitige Abhängigkeiten in den Details der beiden Gelehrten zu Tage, ohne dass sie diese immer genau kenntlich machten.

U2 - 10.15488/14447

DO - 10.15488/14447

M3 - Dissertation

CY - Hannover

ER -